„Wichtig ist, dass die Selbstständigkeit erhalten bleibt.“

Jasmin Hofbauer ist seit drei Jahren für die Volkshilfe Wien als Gebietsleitung für Sozialpsychiatrie tätig. Mit uns spricht die Pflege-Expertin über die Herausforderungen der individuellen Betreuung von Menschen mit Demenz.

Immer wieder berichten heimische Medien, dass der Pflegebedarf größer wird. Wie viele Menschen sind eigentlich auf Ihre Hilfe und Unterstützung angewiesen?

Wir betreuen in der Sozialpsychiatrie derzeit insgesamt knapp 400 Kund*innen auf vier Stützpunkte in Wien verteilt. Der Bedarf ist aber sehr viel höher. Ich bekomme täglich Anfragen für Neukund*innen, die wir nicht aufnehmen können, weil wir einfach zu wenig Ressourcen haben. Darum arbeiten wir gerade an einer Organisationsentwicklung, um in Zukunft den höheren Bedarf decken zu können.

Wie sieht eigentlich der Arbeitsalltag Ihrer Mitarbeiter*innen aus? Was genau hat es denn mit der INDIBET, der individuellen Betreuung, auf sich?

Der größte Unterschied ist sicher unsere Arbeitsweise. Wir arbeiten immer mit den Kund*innen und nicht für sie – natürlich soweit dies möglich ist. Das ist von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Darum bekommen wir viele Zuweisungen für Kund*innen, bei denen es sehr wichtig ist, dass deren Selbständigkeit erhalten bleibt. Wir nennen das immer „Anleitung zur Selbständigkeit“. Das ist sozusagen der große Unterschied zur „Regelbetreuung“, das heißt die normale Hauskrankenpflege.

Außerdem arbeiten wir in sehr kleinen Teams. Somit kennen die Kund*innen das Pflegepersonal sehr gut und umgekehrt. Das ist uns gerade im Beziehungsaufbau sehr wichtig. Wir haben ein lockeres System. Wir sind daher nicht auf genaue Einsatzzeiten angewiesen und stellen uns voll und ganz auf die unterschiedlichen Bedürfnisse unserer Kunden*innen ein. Das betrifft die Uhrzeit der Einsätze und den Betreuungsort. Wenn die Wohnung zum Beispiel für unsere Mitarbeiter*innen nicht sicher genug ist, weil es sich um eine chaotische Messie-Wohnung handelt und man da nicht arbeiten kann, dann verlegen wir das auch auf andere Orte. Wir sind ebenso flexibel was die Einsatzdauer anbelangt. Wenn etwa ein Kunde einen längeren Einsatz braucht, weil es ihm nicht gut geht oder eine spontane Begleitung notwendig ist, dann können wir das alles organisieren. Es kommt natürlich oft vor, dass die von uns betreuten Menschen genau an dem Tag oder der Uhrzeit, an denen die Einsätze stattfinden, keine Energie und Motivation haben. Das ist für uns auch kein Problem. Wir zwingen niemanden. Der Einsatz wird dann einfach beendet oder verschoben. Diese Flexibilität macht zwar die Planbarkeit für uns äußerst schwierig, aber die Kund*innen profitieren sehr davon. Das ist unser Hauptaugenmerk. Die Flexibilität und das Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse unserer Kund*innen.

Sie betreuen ja auch Menschen mit Demenz. Worauf gilt es hier zu achten?

Vor allem bei Menschen mit Demenz ist der Beziehungsaufbau besonders wichtig. Wir werden da oft von den Angehörigen um Unterstützung gebeten, die mit dem Umgang ihrer Familienmitglieder überfordert sind. Oder die Kund*innen werden schon von anderen Organisationen betreut und dann an uns übergeben, weil die Betreuung in einem starren System nicht funktioniert. Wir achten darauf, dass immer dieselben Einsatzkräfte zu den Kund*innen kommen. Der Beginn ist oft sehr schwer, etwa wenn keine Krankheitseinsicht besteht oder die Defizite negiert werden. In diesen Fällen brauchen wir Zeit, um langsam im Team ein vertrautes Umfeld zu schaffen. Wichtig ist uns die Kombination zwischen geriatrischer Pflege, also der Unterstützung bei den alltäglichen Aktivitäten, und der psychiatrischen Pflege, das heißt der Fokus liegt auch auf Gespräche und Beziehungsarbeit. Am Anfang der Betreuung kann es vorkommen, dass wir Wochen oder auch Monate nicht in die Wohnung dürfen. Das erfordert von unseren Mitarbeiter*innen draußen sehr viel Geduld, aber in den meisten Fällen schaffen wir den Zugang. Wir halten da durch. Mit unserer Arbeit fördern und erhalten wir die alltagspraktischen Fähigkeiten, damit die Menschen auch mit Demenz in ihrer eigenen Wohnung lang leben können. Wir unterstützen sie in der Haushaltsführung, organisieren und begleiten sie zu den diversesten Terminen bei Ämtern oder Ärzt*innen. Unsere Tätigkeiten sind ganz breit gefächert.

In der Kommunikation mit an Demenz erkrankten Menschen bedarf es viel Feingespür. Hierbei kommt oft die Methode der Validation zum Einsatz. Wie kann man sich das in der Praxis vorstellen?

Wir schauen, dass wir diese eigene Welt akzeptieren und die Leute nicht durch Zwang mit der äußeren Realität konfrontieren. Da ist die Erarbeitung der Biografie besonders wichtig. Deswegen sind dort auch immer dieselben Pflegepersonen und sehr wenige Wechsel – um die Kund*innen auch wirklich zu kennen, zu wissen, was ihnen besonders wichtig ist, damit die vertraute Umgebung erhalten bleibt. Durch jeden Ortswechsel kommt es zu einem massiven Verlust der Orientierung und zu einer Verschlechterung der Erkrankung. Das wollen wir so lange wie möglich vermeiden.

Gerade bei der Validation ist wichtig, dass wir ein professionelles Nähe-Distanz-Verhältnis einhalten und der Umgang respektvoll ist. Wir kennen die täglichen Routinen der Betroffenen, wir überfordern sie aber nicht. Natürlich ist auch Humor ganz wichtig. Wir haben immer ein Verständnis für die eigene Welt der Betroffenen. Wir sorgen für eine geordnetes und gleichbleibendes Umfeld und einen geregelten Tagesablauf. Wichtig ist außerdem, in kurzen und einfachen Sätzen zu sprechen. Oft erkennen wir nur anhand von Gefühlsregungen die nonverbalen Signale und können darauf reagieren. Auch dabei ist es wichtig, dass wir mit den Kund*innen arbeiten und nicht neben ihnen.

Das klingt nach vielen Herausforderungen …

Es kommen zur Demenz unterschiedliche Problematiken dazu. Das können Unruhezustände sein, Depressivität oder auch Aggressivität. Wir haben beispielsweise eine Kundin, die sich am Anfang ganz schwer beherrschen konnte. Zunächst wurde sie von einer anderen Organisation betreut und ist einmal sogar mit einem Messer in der Hand dagestanden, weil sie sich wirklich in die Enge getrieben gefühlt hat. Wir haben sie mittlerweile übernommen und es ist absolut kein Problem mehr, mit ihr zu arbeiten. Wir haben sie immer wieder auf ihre Aggressionszustände hingewiesen und ihr vorgespiegelt, was dieses Verhalten mit uns macht. Wenn sie mittlerweile diese Zustände hat, kann sie sie sehr gut erkennen und geht in einen anderen Raum, boxt vielleicht auf die Tür und kommt dann wieder entspannt zurück. Es ist sehr interessant, was wir da alles gemeinsam mit den Kund*innen erarbeiten können.

Eine weitere Dame hat einen massiven Bewegungsdrang. Sie geht mit ihrem Hund wirklich stundenlang spazieren. Hier ist unsere Flexibilität so wichtig. Wir fahren meist öfters zu ihr, weil sie einfach nicht zuhause ist und das Zeitfenster des Einsatzes begrenzt ist. Da wir nicht wissen, wann sie da ist, versuchen unsere Mitarbeiter*innen dreimal am Tag bei ihr zu sein. Wir versorgen auch den Hund mit, weil sie das ebenso vergisst, obwohl das nicht in unserem Aufgabenbereich steht. Wir machen das natürlich trotzdem, damit die Dame auch mit ihrem Hund Leben kann, so wie sie es gewohnt ist. Bei ihr ist zudem ganz interessant, dass sie immer dieselben Lebensmittel kauft. Am Anfang der Betreuung war die ganze Küche voll mit Tomaten. Die Angehörigen haben schon gesagt, sie können keine Tomatensaucen mehr einkochen, weil sie einfach jeden Tag Tomaten holt. Mittlerweile haben wir das in den Griff bekommen, in dem wir ihr immer wieder in den Einkaufskorb einen Zettel hineinlegen, auf dem geschrieben steht: „Keine Tomaten kaufen“. Sie versteht das. Man muss sich da einfach langsam heranarbeiten und schauen, wie man diese Probleme löst, oder man ignoriert es halt einfach. Es gehört dazu, dass man gewisse Dinge nicht ändern kann.

Eine andere Kundin reagiert beispielsweise nicht auf ihren Namen nach der Hochzeit, sondern nur auf den Mädchennamen. Hier mussten wir aufpassen. Denn wenn man sie mit ihrem richtigen Familiennamen anspricht, ist der Beziehungsaufbau mal ganz erledigt. Da ist es wichtig, dass die Mitarbeiter*innen, die Kund*innen wirklich gut kennen und wissen worauf sie aufpassen müssen. Solche Feinheiten, wie die Sache mit dem Familiennamen, können den Beziehungsaufbau von Anfang an schon erschweren.

Unser Ziel ist, dass die Betroffenen angstfrei und geborgenen in ihrem zu Hause leben können. Deshalb ist es ganz wichtig, die richtige Kommunikation zu finden, um einen Zugang zur Erlebniswelt der Menschen mit Demenz aufbauen zu können.

Jasmin Hofbauer ist Gebietsleitung der Sozialpsychiatrie bei der Volkshilfe Wien.

 

22. August 2022